Vereinfachte Verfälschung? Das angespannte Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit nicht nur in Zeiten der Pandemie

Ein Gespräch von Prof. Dr. Udo Thiedeke mit Dr. Sascha Dickel, Professor für Mediensoziologie und Gesellschaftstheorie an der Universität Mainz, über das spannungsreiche Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und seiner Veröffentlichung.

Shownotes

00:02:17 „Coronavirus und Medien“ ein Gespräch mit demn Virologen Christian Drosten im Deutschlandfunk 16.11.2020

https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-und-medien-christian-drosten-bei-formate-100.html

00:04:11 Hier finden sich Informationen zum Film „dont’t look up“?

https://de.wikipedia.org/wiki/Don%E2%80%99t_Look_Up

00:09:17 Unter einem „dispersen Publikum“ ist ein Publikum gemeint, dessen Mitglieder räumlich und zeitlich voneinander getrennt sind und einander in der Regel nicht kennen (vgl. Maletzke, 1998).

Gerhard Maletzke, 1998: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden. S. 45ff.

00:09:51 Siehe Friedhelm Neidhardt, 1994: Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsprobleme der Wissenschaft, in: Wolfgang Zapf, Meinolf Dierks (Hrsg.): Institutionenvergleich und Institutionendynamik. Berlin. S. 39-56.

00:11:33 Siehe Jürgen Habermas, 1962: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt/M.

00:12:00 Niklas Luhmanns Öffentlichkeitsmodell begreift Öffentlichkeit allgemeiner und auch losgelöst von massenmedialer Kommunikation als: „(…) gesellschaftsinterne Umwelt der gesellschaftlichen Teilsysteme, also aller Interaktionen und Organisationen, aber auch der gesellschaftlichen Funktionssysteme und der sozialen Bewegungen.“ (1996: S. 184/185). Öffentlichkeit wird so zu einem innergesellschaftlichen Reflexionsmedium (a.a.O.: 187).

Niklas Luhmann, 1996: Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Opladen.

00:13:56 Luhmanns Hinweis darauf, dass die Wissenschaft ihr eigenes Publikum ist:

Vgl. Niklas Luhmann, 1998: Die Wissenschaft der Gesellschaft. 3. Aufl. Frankfurt/M. S. 625f.

00:17:39 Die „öffentliche Meinung“ sieht Luhmann hingegen dezidiert als Artefakt des Buchdrucks, als erstem Massenmedium an, die damit zu einer „(…) Letztinstanz der Beurteilung politischer Angelegenheiten wird.“ (1996: S. 187).

Niklas Luhmann, 1996: Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Opladen.

00:21:24 Mit den „Filterblasen“ im Internet sind abgegrenzte Interessenspären gemeint, die durch eine algorithmische Auswahl den Insassen nur immer das vorführen, was sie ohnehin schon interessiert (vgl. Eli Pariser, 2012).

Eli Pariser, 2012: Filter bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden. Berlin.

Unter einer „Echokammer“ ist hingegen eine soziale Sphäre der fortwährenden Bestätigung der eignen Meinung gemeint, die sowohl online im Internet, als auch offline in der aktuellen Realität vorkommen kann. Dies scheint auf Verstärkungseffekten „sozialen Lernens“ zu beruhen (vgl. Brady et al., 2021).

William J. Brady, Killian McLoughlin, Tuan N. Doan, Molly J. Crockett, 2021: How social learning amplifies moral outrage expression in online social networks. Science Advances, 7. Doi:10.1126/sciadv.abe5641.

00:24:34 Emprisch scheint sich die Erzählung von der in der eigenen Interessensblase Gefangenen allerdings weniger zu bestätigen. Hier zeigt sich eher, dass die Nutzenden des Internets eindeutig auch Interessen und Meinungen außerhalb der eigegen Präferenzen wahrnehmen (vgl. z.B. Flaxman et al., 2016).

Seth Flaxman, Sharad Goel, Justin M. Rao, 2016: Filter Bubbles, Echo Chambers, and Online News Consumption. In: Public Opinion Quarterly, 80. S. 298–320.

Hinsichtlich des sog. Echokammereffekts konnte empirisch zudem gezeigt werden, dass selbst Mitglieder meinungshomogener Gruppen im Internet dazu tendieren, ihre Meinungen sinnvoll zu korrigieren (Vgl. Becker et al., 2019).

Joshua Becker, Ethan Porter, Damon Centola, 2019: The wisdom of partisan crowds. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116, 10717-10722.

00:26:02 Der Begriff der „Verschwörungstheorien“ ist nicht ohne Schwierigkeit, denn damit meinen wir inzwischen zumeist „Verschwörungsbehauptungen“ oder gar „Verschwörungsideolgien“, also konstruierte Zusammenhänge, die sich in der Regel nicht durch unabhängig prüfbare Beweise falsifizieren lassen. Besonders Popper hat das Verständnis von Verschwörungstheorien geprägt, indem er von „Verschwörungstheorien der Gesellschaft“ sprach, die aufdecken und erklären will, was sie selbst behauptet, nämlich, dass gesellschaftliche Ereignisse durch Menschen herbeigeführt werden, die am Eintreten dieser Ereignisse ein Interesse haben und dazu konspirativ vorgehen (Popper, 1992: S. 119).

Karl R. Popper, 1992: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 7. Auflage. Tübingen.

00:27:14 Eine soziologische Kritik am „Arena-Modell“ von Öffentlichkeit formulierte Armin Nassehi.

Armin Nassehi, 2006: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt/Main.

00:33:41 Das „Defizit-Modell“ von Öffentlichkeit geht in Bezug auf die öffentliche Kommunikation der Wissenschaft davon aus, dass wissenschaftliche Expertise Fakten vermittelt, die eine weitgehend uninformierte Öffentlichkeit dann so weiterkommuniziert.

Alan Irwin, 2014: From deficit to democracy (re-visited). In: Public understanding of science (Bristol, England) 23 (1), S. 71–76. DOI: 10.1177/0963662513510646.

00:34:25 In den Vorstellungen zu „Postnormal-Science“ wird von einer zunemenden Indifferenz des Alleinstellungsmerkmals der Wissenschaft als Produzentin wahren Wissens und einer Überlagerung und Vermischung mit interessengeleiteten Wahrheitsbegriffen etwa der Politik ausgegangen. Hier wird u.a. die Frage aufgeworfen, ob die Objektivierung wahres Wissen oder nicht vielmehr begründete Informiertheit das Unterscheidungskriterium eines wissenschaftlichen Zugangs zur Weltwahrnehmung sein könnte.

Silvio 0. Funtowicz, Jerome R. Ravetz, 1993: Science for the Post-Normal Age. In: Futures 25 (7), S. 739–755.

00:42:18 Weitere mediensoziologische Hinweise zu mediatisierten Disputen:

Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina; Deutsche Akademie der Technikwissenschaften; Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), 2017: Social Media und digitale Wissenschaftskommunikation. Analyse und Empfehlungen zum Umgang mit Chancen und Risiken in der Demokratie. Unter Mitarbeit von Andreas Wenninger, Peter Weingart und Holger Wormer. 1. Auflage. Halle (Saale), München, Mainz.

http://www.leopoldina.org/de/publikationen/detailansicht/publication/social-media-und-digitale-wissenschaftskommunikation-2017/.

00:43:26 „Exemplarischen Personen“ meint alle Darstellungen von Personen in den Massenmedien, bei denen, aufgrund der Kommunikation mit einem weitgehend unbekannten Publikum, dessen Interesse durch Betroffenheit auf die massenmedialen Mitteilungen fokussiert werden muss, individuelle Merkmale, Verhaltensweisen oder Fähigkeiten typisiert in Erscheinung treten. Diese Typisierung kann u.a. über chrarakteristische Kontextmerkmale erzeugt werden, indem man etwa eine Wissenschaftlerin, einen Wissenschaftler vor einer Bücherwand oder in einem Laborkittel zeigt oder beschreibt, um den Typus „Professorin / Professor“ aufzurufen (vgl. Thiedeke, 2012: 339f.; 347f.).

Udo Thiedeke, 2012: Soziologie der Kommunikationsmedien. Medin – Formen – Erwartungen. Wiesbaden.

00:56:02 Hinweis zum Forschungsprojekt zum DFG-Projekt „De- und Restabilisierung von Evidenz in der Coronakrise“. Das Projekt will untersuchen, wie sich Produktion, Aushandlung und Kommunikation biomedizinischer Evidenz unter den Bedingungen der Coronavirus-Pandemie vollziehen.

https://mediensoziologie.soziologie.uni-mainz.de/forschung/https://mediensoziologie.soziologie.uni-mainz.de/forschung/

00:59:42 Informationen zur Forschungsgruppe „Evidenzpraktiken“ an der Technischen-Universität-München.

http://www.evidenzpraktiken-dfg.tum.de/uber-uns/

01:09:53 Hier kann man selbst mitforschen auf der Citizen-Science-Plattform „Bürger schaffen Wissen“

https://www.buergerschaffenwissen.de/

01:13:59 Der Kybernetiker Heinz von Foerster war gegen Ende seines Lebens durchaus der Meinung, dass wissenschaftliche Theorien angesichts zunehmnd unlösbarer Fragen und einer Inflation der Daten zu Erzählungen werden, die nicht belegbar, aber evtl. plausibel sind.

Interview https://www.youtube.com/watch?v=2KnPBg-tanE

Dauer 01:21:27

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Veröffentlicht am 29. Juni 2022