Die Sorge der Raumnomaden – Dr. Michael Liegl im Gespräch

Dr. Michael Liegl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz unterhält sich mit Dr. Udo Thiedeke über unsere Beziehung zum Raum und unsere Sorge um den Raum, wie sie sich einstellen, seit wir zu Raumnomaden geworden sind.

Shownotes:

#00:06:12# Erste Siedlungen und Kultstätten, wie etwa Göbekli Tepe oder Nevalı Çori, werden in Verbindung mit der sog. neolithischen Revolution ca. 10000 vor unserer Zeitrechnung gesehen, in der Ackerbau und Viehzucht entstanden. Vgl. Göbekli Tepe Klaus Schmidt (Hrsg. für ArchaeNova e.V.), 2009: Erste Tempel – Frühe Siedlungen. 12000 Jahre Kunst und Kultur. Ausgrabungen und Forschungen zwischen Donau und Euphrat. Oldenburg: Isensee.

#00:12:24# Der „(Neo-)Kommunitarismus“ ist eine sozialphilosophische Strömung, zu deren prominentesten philosohischen Vertretern Alasdair Macintyre, Charles Taylor und Michael Sandel zählen. Seit den 1980er Jahren üben Vertreter dieser Strömung Kritik an etablierten liberalen Ethikmodellen mit der Annahme, dass erlebte Gemeinschaft und Solidarität die Voraussetzungen für Gerechtigkeit und Fairness (den Prinzipien des Liberalismus) darstellen. Soziologische Vertreter des Kommunitarismus sind etwa Amitai Etzioni (politischer Berater der Clinton Administration) und Robert Putnam. Vgl. etwa:

Etzioni, Amitai, 1996: The new golden rule: Community and morality in a democratic society. New York: Basic Books (AZ).
Putnam, Robert D., 2000: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York: Simon&Schuster.

#00:12:36# In Zeiten großer Leerstände innerstädtischer Immobilien entstand in New York nicht nur eine lebendige Hausbesetzerszene, diese ging auch mit einer Bewegung von „Community Gardening“ einher, bei der sich Bewohner des Viertels zusammenschlossen und Ödflächen die nach dem Abriss verrotteter Häuser zurückblieben zu räumen und zu bepflanzen. Vgl. American Community Gardening Association (Hrsg.), 1998: National Community Garden Survey. Philadelphia, PA : American Community Gardening Association.

#00:13:35# Zum Konzept der segmentären Vergesellschaftung bzw. segmentären gesellschaftlichen Differenzierung siehe: Niklas Luhmann, 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 634ff.

#00:15:02# Hier ist z.B. der Cocoon Club, in dem man „Cocooning“ betreiben kann.

#00:15:30# Die „Soziologie und die Stadt“: Einigen Soziologen gilt die Stadt als Ort der Moderne und damit als Geburtsstätte der Soziologie. Georg Simmel etwa behauptet eine besondere Mentalität des Städtischen (Die Städte und das Geistesleben) und betrachtet Formen städtischer Mobilität als Produktionsweise moderner Individualität (Die Kreuzung sozialer Kreise). Robert E. Park, einer der Begründer Chicagoer Urban Sociology, sieht gar die Stadt als soziales Labor (The city as social laboratory).

Park, Robert E., 1929: The City as a Social Laboratory. In: Thomas V. Smith, Leonard D. White (Hrsg.): Chicago: An Experiment in Social Science Research. Chicago, Il.: Univ. of Chicago Press. S. 1-19.
Simmel, Georg, 1984: Die Großstädte und das Geistesleben. In: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin: Wagenbach. S. 192-204

#00:16:31# „Civil Inattention“ (deutsch: höfliche Gleichgültigkeit) ist ein Konzept von Erving Goffman, das die (normale) Haltung in der Begegnung einander Fremder in der Öffentlichkeit beschreibt. Diese nehmen einander wahr, signalisieren dies und lassen einander daraufhin in Ruhe. Siehe: Erving Goffman, 1963: Behavior in Public Places. Notes on the Social Organization of Gatherings. New York: The Free Press. S. 84 ff.

#00:17:03# Zu den alten Städten des vorderen Orients siehe die Episode „5412 Jahre Vertrauen in Materialität – Prof. Dr. Markus Hilgert im Gespräch“ in diesem Podcast

#00:18:05# Zur „Kreuzung der sozialen Kreise“: Simmel, Georg, 1992: Die Kreuzung sozialer Kreise. In: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. II. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 456-511. [1908]

#00:30:20# Zur „europäischen Stadt“ etwa im Vergleich zur amerikanischen siehe:
Häußermann, Hartmut, 2001: Die europäische Stadt. Leviathan: Zeitschrift fur Sozialwissenschaft, 29. S. 237-255.

Häußermann, Hartmut, 2011: Was bleibt von der europäischen Stadt? In: Frey, Oliver; Koch, Florian (Hrsg.): Die Zukunft der Europäischen Stadt. Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel. Wiesbaden: VS Verlag. S. 23-35.

#00:32:29# „Communities of choice“ ist ein Konzept der amerikanischen Moralphilosophin Marilyn Friedman, die sich gleichermaßen gegen die zu dünn empfundene liberalen Konzepte Freiheit und Gerechtigkeit und gegen zumal für Frauen oder angehörige ethnischer Minderheiten zu einschränkenden Gemeinschaftskonzepte der Kommunitaristen richtet. Vgl. Friedman, Marilyn, 1989: Feminism and Modern Friendship: Dislocating the Community. Ethics, 99: S. 275-290.

#00:36:24# Michael Liegl, 2010: Digital Cornerville.Technische Leidenschaft und musikalische Vergemeinschaftung in New York. Stuttgart: Lucius&Lucius.

#00:38:15# Zum ortlosen Raum des Cyberspace: William Gibson, 1984: Neuromancer. New York: The Berkley Publishing Group.

#00:39:29# Als „Megacities“ werden im Allgemeinen Städte bezeichnet, die ungefähr 10 Millionen Einwohner haben. Neben diesem rein quantitativen Bestimmung ist in der soziologischen Literatur die Rede von „Global Cities“ oder „Metropolen“. Das eine bezeichnet eine spezifische strategische Stellung in der globalen Wirtschaft, das andere zielt auf eine besondere Qualität des Urbanen. Siehe:

Sassen, Saskia, 1991: The Global City: New York, London, Tokyo. Princeton, NJ.: Princeton Univ. Press.
Sassen, Saskia, 1995: Metropole: Grenzen eines Begriffs. In: Fuchs, Gotthard, Moltmann, Bernhard, Prigge, Walter (Hrsg.): Mythos Metropole. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 165-177.

#00:40:38# Zum neuen Mobilfunkstandard LTE (Long Term Evolution)

#00:41:54# „New York Grid“: Grid zu deutsch Raster ist die Anlage geplanter Städte wie Manhattan, aber auch Mannheim, wo die Straßen parallel und orthogonal zueinander laufen und dadurch ein Muster aus Rechtecken entsteht, das einem Schachbrett ähnelt. Zur Entstehung des Grid siehe eine Austellung im „Museum of the City of New York“.

#00:42:37# Wer suchet der findet! Zum Uniform Resource Locator (URL) des Internets

#00:43:45# „Share Community“: Über die Share Community schreibt Liegl in seinem Buch Digital Cornerville. Das „Mutterschiff“ und am längsten (seit 2001) existierende lokale Knoten (node) eines mittlerweile globalen Netzwerks lokaler Gemeinschaften ist Share NY. Online.

#00:49:20# Zu Interaktionsordnungen (Goffman), Interaktionssystemen (Luhmann), einfachen Interaktionssystemen (Kieserling). Siehe:

Goffman, Erving, 1983: The Interaction Order. In: American Sociological Review, 48. S. 1-17.
Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 551-592.
Kieserling André, 1999. Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

#01:05:50# Gute „Locations“ von Share waren zunächst Open Air Bar (East Village Manhattan) dann das hausofouch ein Künstlerloft in Dumbo (Brooklyn) und die Bar Mundial (East Village Manhattan).

#01:06:52# Unter dem „Gentrification-Prozess“ versteht man die Aufwertung von maroden Stadtteilen, deren leerstehender Raum und billige Mieten Kreative, Künstler und Subkulturen anziehen. Solche Viertel werden durch die Aufwerkung und ein entsprechendes Konsumangebot attraktiv für die besserverdienenden Mittelschichten, was zu Mietsteigerungen und der Verdrängung einkommensschwächerer Bewohner führt. Vgl.:

Jürgen Friedrichs, Robert Kecskes (Hrsg.), 1996: Gentrification. Theorie und Forschungsergebnisse. Opladen: Leske + Budrich.
#01:08:30# „Warehouse-Party-Szene“: In den frühen 1990er Jahren boten leerstehende Fabrik- und Lagerhallen in dem weitgehend heruntergekommenen Brooklyner Stadtteil Williamsburg Raum für große Soundinstallationen, Performances und Techno Parties.
#01:13:36# Mit dem „dritten Ort“ sind Orte jenseits der Arbeit und des Privaten gemeint, wie etwa das Café. Für manche Theoretiker sind dies die Orte der Zivilgesellschaft. Vgl.: Oldenburg, Ray, 1997: The Great Good Place: Cafes, coffee shops, community centers, beauty parlors, general stores, bars, hangouts, and how they get you through the day. New York: Marlowe & Co.

#01:17:22# „Wissensgesellschaft“ ist eines der vielen Labels, die Antwort auf die Frage „in welche Gesellschaft leben wir eigentlich?“ geben. Alternativ wird auch von Informationsgesellschaft (Bühl) oder auch Post-Industrial Society (Bell) gesprochen. Vgl.:

Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hrsg.), 2010: Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme. Bielefeld: transcript.
Bell Daniel, 1976: The Coming of Post-Industrial Society. New York: Basic Books.
Bühl, Walter L., 1994: Wissenschaft und Technologie. An der Schwelle zur Informationsgesellschaft. Göttingen: Schwartz.

#01:17:43# Zur „Neuen Selbständigkeit“ vgl.: Bologna, Sergio, 2006: Die Zerstörung der Mittelschichten: Thesen zur Neuen Selbstständigkeit. Graz/Wien: Nausner&Nausner.

#01:19:43# Zu neuen Wissens- und Publikationsformen in der Wissenschaft siehe die Episode mit „Wir Angestellte unserer Texte – Björn Krey im Gespräch“
#01:21:14# Die Sorge um den Raum Coworking Spaces: Liegl, Michael, 2011: Die Sorge um den Raum: mediale Ortlosigkeit und Dispositive der Verortung. testcard. Beiträge zur Popgeschichte # 20: S. 182 – 189.

#01:27:07# Zur „Broken Windows“-Theorie des Sozialpsychologen Philip Zimbardo

#01:27:55# Zu den Räumen des Architekten Ludwig Mies van der Rohe

#01:29:50# Zum Umgang mit Formen: Vilém Flusser, 1998: Paradigmenwechsel, in: ders. Medienkultur, hrsg. v. Stefan Bollmann. Frankfurt/M.: Fischer TB Verlag. S. 190-201

[alle Links aktuell September/Oktober 2012]

 

 

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